Was ist Shamatha?
Ruhiges Verweilen – mit vollkommener Aufmerksamkeit tun, was immer wir tun, und nicht gleichzeitig über etwas Anderes nachdenken.
Stelle dir einen See vor, umringt von Hügeln und schneebedeckten Bergen. Es ist ein klarer Bergsee, der die ihn umgebenden Berge so deutlich widerspiegelt, dass es schwierig sein kann zu unterscheiden, welches der Berg ist und welches seine Reflexion auf der Wasseroberfläche. Wenn der See aber von den Elementen aufgewühlt wird, kommt verschiedenes in Gang. Zunächst wird die Oberfläche unruhig und es ist nicht länger möglich, eine klare Reflexion der Berge zu sehen. Das Bild ist zwar immer noch da, aber es ist verzerrt. Dann ist es wegen der bewegten Wasseroberfläche und der Wellen nicht mehr möglich, in die Tiefe des Sees zu blicken. Nicht nur die Oberfläche ist in Bewegung, auch der Grund des Sees ist aufgewühlt und das Wasser wird dadurch schmutzig trüb und undurchsichtig. Dieser Zustand ist dem unseres Geistes im Alltag, wo er ständig von den Wellen der sechs Sinne aufgewühlt ist, sehr ähnlich.
Die sechs Sinne sind Sehen, Hören, Geruch, Geschmack, Gefühl und Bewusstsein. Durch das, was wir sehen, hören, riechen, schmecken oder berühren, wird unser Geist unablässig von Gedanken und Emotionen aufgewühlt. Aufgrund dessen reflektiert unser Geist nicht akkurat, was draussen vor sich geht. Mit anderen Worten, wenn da draussen etwas vor sich geht, interpretieren wir es augenblicklich entsprechend unseren Neigungen und Vorurteilen. Wir sehen die Dinge nicht, wie sie wirklich sind, wir interpretieren sie. Das passiert so automatisch, dass wir uns dieser Tatsache gar nicht bewusst sind. Wenn man mit einer Reihe von Leuten spricht, die denselben Vorgang miterlebt haben, wird ihn jeder anders beschreiben.
Die individuelle Natur unseres Erfahrens wird durch unsere bereits existierenden Sichtweisen und Vorurteile bestimmt. Was immer wir an Information erhalten, wird von unseren Sinnesorganen verzerrt, so wie die Oberfläche des Sees von den Elementen verzerrt wird. Wenn wir versuchen, in unseren Geist zu sehen, während er derart aufgewühlt ist, werden wir nicht allzu viel sehen. Alles was wir sehen, ist das Geplapper, das sich an der Oberfläche abspielt. Wenn wir aber nun wieder den Bergsee betrachten und den Winden gestatten sich zu beruhigen, dann wird auch die Oberfläche langsam wieder ruhig, wie die Oberfläche eines Spiegels. Sie kann dann die Umgebung erneut exakt widerspiegeln. Wenn wir in diesem klaren und friedlichen Bergsee blicken, können wir bis auf den Grund sehen. Wir sehen die Fische darin, die Pflanzen und die Steine am Grund des Sees. Wir sehen sogar die leuchtenden Kiesel auf dem Seegrund. Solche Seen sind derart klar, dass man meinen könnte, sie seien nur wenige Zentimeter tief. Wenn man aber einen Kieselstein hineinwirft, sieht man, wie er langsam bis auf den Grund hinabsinkt. Ähnliches geschieht mit unserem Geist: wenn er nicht mehr von den Winden der sechs Sinne aufgewühlt ist, beruhigt er sich und wird klar.
Wenn der Geist still ist, empfangen wir akkurate Informationen von unseren sechs Sinnen. Wir sehen die Dinge wie sie sind, bevor sie mit allen unseren Vorurteilen, persönlichen Neigungen uns unserm geistigen Geplapper verzerren. Wenn der Geist still ist, können wir, wenn wir unter die Oberfläche blicken, in den Geist selbst schauen, bis hin zu sehr tief liegenden Ebenen.
Bevor wir mit dem Praktizieren beginnen, ist es sehr wichtig, dass wir uns motivieren. Sonst fängt der Geist sich an zu langweilen und ist leicht ablenkbar, wenn der anfängliche Enthusiasmus dahin ist. Die Art und Weise wie man den Geist bei Laune hält, besteht darin, die Meditationszeiten zunächst sehr kurz zu halten, aber oft zu wiederholen, um ein gewisses Interesse für eine Weile aufrechtzuerhalten. Kurz heisst hier: ein Zeitraum, der uns angenehm ist. Weniger als zehn Minuten ist allerdings wenig nützlich. Zwanzig Minuten sind wohl in etwa angemessen. Es dauert ungefähr zehn Minuten, bis der Geist sich beruhigt. Wenn wir die Sitzung beenden, wenn der Geist gerade erst ruhig geworden ist, dann ist das zu früh.
Meditation:
Setze dich in eine bequeme Meditationshaltung. Richte deine Wirbelsäule auf und halte den Kopf aufrecht und lege deine Hände auf die Knie oder in den Schoss.
Zuerst beginne damit, dich in die Gegenwart zu bringen. Bring deinen Geist hierher, in den Raum. Bringe dann den Geist in deinen Körper. Sei dir bewusst, wie du sitzt, deiner Haltung, jeder deiner körperlichen Wahrnehmung und nimm einfach nur Kenntnis davon.
Dann, ganz ruhig, richte deine Aufmerksamkeit auf deinen Atem. Denke nicht daran, erfahre den Atem einfach nur, erfahre das Einatmen, erfahre das Ausatmen.
Während du das tust, werden dir Gedanken erscheinen. Gedanken sind nichts weiter als das natürliche Spiel des Geistes. Sie sind wie Wellen auf der Oberfläche eines Sees. Sie sind kein Problem. Es ist die Natur des Geistes, Gedanken zu denken, aber wir müssen ihnen nicht nachhängen. Wir müssen sie nicht mit Energie versorgen. Lasse also alle Gedanken an die Vergangenheit fallen, höre auf, über die Zukunft zu spekulieren, und gib der Gegenwart keine Energie, sei einfach nur beim Ein- und Ausatmen.
Wenn du Geräusche hörst, sind das nur Wellen, die sich auf dein Hörorgan auswirken. Geräusche sind etwas Natürliches, sie zu hören ist natürlich. Sie sind nicht wichtig, gebe auch den Geräuschen keine Energie. Wenn du ein Geräusch hörst und dann denkst: «Oh, was für ein fürchterliches Geräusch» oder «Ich wünschte, dieses Geräusch würde aufhören», sei dir nur dieser Gedankenaktivität bewusst und mach weiter. Was auch immer hochkommt, erkenne es, akzeptiere es und dann lass es gehen. Bleibe bei deinem Atem. Wenn du ihn verlierst, bringe deinen Geist sanft zum Atem zurück.
Om Shanti Shanti Shanti
Shamatha ist die Vorbereitung und die Grundlage für Vipashyana (Einsicht).
Quelle:
Ani Tenzin Palmo
Weibliche Weisheit vom Dach der Welt
Foto:
James Wheller on unsplash
Lake Minnewanka, Canadian Rockies