Die Mitte des Mittleren Weges

 
 
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ORT DES GLEICHGEWICHTS


Die Lehre des Buddha ist auch unter dem Namen der «Mittlere Weg» bekannt, denn sie meidet Extreme des übermässigen Genusses der Sinne auf der einen Seite sowie exzessive Askese oder übertriebene Selbstkasteiung auf der anderen.

Die Welt des Schwelgens im Genuss ist berauschend, aber leer. Sie hüllt uns wie in Nebel ein, der uns davon abhält, Tieferes zu suchen. Aber während wir uns den Sinnesfreuden hingeben, bedroht der Schmerz anderer Menschen die behagliche Selbstzufriedenheit, die unser Wohlleben begleitet. Also neigen wir dazu, das fremde Leid nicht zu beachten, während wir uns gleichzeitig abmühen, das eigene Leid zu verbergen. Das führt dazu, dass wir von der Fülle des Lebens abgeschnitten leben.

Auf ähnliche Art und Weise verhält es sich mit dem Pfad der Selbstkasteiung und Askese, der nur die Gefühle der Selbstablehnung und des Selbsthasses verstärkt, die uns von der Liebe, die den entscheidenden Punkt jeder spirituellen Wandlung darstellt, trennt. Heutzutage fühlen wir uns nicht so angezogen von der Vorstellung, Eremiten zu werden und uns selbst zu kasteien. Aber wir sind immer noch dabei, den Körper zu missbrauchen und zu erniedrigen. Unsere Gesellschaft neigt eher zu übermässigem fasten, wenig schlafen und den Körper zu vernachlässigen. Eine andere, etwas verstecktere Form der Selbstkasteiung ist die Schaffung quälender Beziehungen zum eigenen Geist, wie Selbstverurteilung und Selbsthass – als ob deren missbräuchlich eingesetzte Kraft uns irgendwie befreien könnte.

Den Mittleren Weg zwischen den beiden Extremen zu gehen, heisst nicht, je ein bisschen Genusssucht und ein bisschen Askese zu nehmen und sie gut zu vermischen. Genauso wenig bedeutet der Mittlere Weg Mittelmass, den kleinsten gemeinsamen Nenner der zwei Extreme zu finden und einfach in Trägheit zu verfallen. Es geht vielmehr darum die Spannung und das Elend beider Extreme zu sehen und ganz woanders anzukommen, nämlich bei einer Haltung, die in keine der zwei Kategorien passt. Dort werden wir von keinem der beiden Extremen angezogen.

Der Mittlere Weg ist ein Gleichgewicht zwischen moralischer Integrität, zentrierter Konzentration und Klarsicht. Diesen Ort des Gleichgewichts, finden wir, indem wir uns selbst, unsere Fähigkeiten sowie unsere Vorstellungen über das Glück einer umfassenden Nachprüfung und Korrektur unterziehen. Und diesen Weg werden wir folgen – aus Liebe zu uns wie zu anderen und voll Dankbarkeit und Freude über die Erkenntnis unseres Potentials, frei und der Welt von Nutzen sein zu können. Wenn wir verstehen, wo das wahre Glück zu finden ist, werden wir uns das geben, was wir brauchen, und wachsam gegenüber dem sein, was wir nicht brauchen.

Den Mittleren Weg zu gehen ist ein Prozess der ständigen Entdeckung in jedem Moment der Reise. Wir müssen offen, verletzlich und lebendig bleiben und unseren Weg immer und immer wieder, in jedem Moment, aufs neue verwirklichen. Aus der Bewusstheit und aus dem Mitgefühl gegenüber uns selbst und anderen entdecken wir den Ort in unserem eigenen Inneren, der Ausdruck des befreiten Geistes ist.

Da wir dem Mittleren Weg jeden Tag unzählige Male und in unzähligen Arten begegnen, kann er als Fraktal gesehen werden, also als eine unregelmässige geometrische Figur, die sich in ähnlicher Form in allen möglichen Grössen in ähnlicher Form nachbildet. In der Natur, zum Beispiel, ist es oft so, dass ein kleines Stück einer Sache wie eine Nachbildung des Ganzen im Kleinformat erscheint. Der Farn ist ein nahezu vollkommenes fraktales Objekt. Er besteht aus einem Stängel mit vielen weiteren Farnen links und rechts. Dieser trägt wiederum kleinere Farne usw.

Jeder Moment, in dem wir ein Gleichgewicht zwischen den Extremen der Selbstkasteiung und der Genusssucht finden, ist eine perfekte Nachbildung des grossen Mittleren Weges zur Befreiung. Auf dem Mittleren Weg finden wir Freiheit nicht nur am Ende der Reise, sondern ebenso in der Mitte, und in der Mitte der Mitte, und in der Mitte der Mitte der Mitte. Jeder Schritt auf dem Weg zu Freiheit ist bereits Freiheit.


Quelle:
Sharon Salzberg
Ein Herz so weit wie die Welt

Foto:
Annie Spratt on unsplash

 
 
Claudia Furrer